bookmark_borderDer Wunsch nach unberührter Natur

Es sind wahrscheinlich vor allem Städter, die sich nach der unberührten Natur sehnen. Der Natur, die alles aus sich selbst schafft, ohne menschliche Eingriffe. Ich ertappe mich auch oft bei der Vorstellung, ja, wenn wir natürlicher leben würden, im Einklang mit der Natur, dann wäre alles harmonisch ineinander gefügt, es funktionierte. Die Tiere und Pflanzen wachsen selber und entwickeln sich zur richtigen Form. Auch die Kinder könnten sich ohne deformierende erzieherische Eingriffe doch viel besser entwickeln. Die Natur selber fügt alles zum Guten, sie wird als Lebewesen gedacht, gemeint sind meistens insbesondere die Tiere und Pflanzen, also alle Lebewesen. Die Natur ersetzt wohl zum Teil Gott. Uns selbst sehen wir nur zum Teil als Natur an, am ehesten noch unseren Körper, vor allem und immer noch den weiblichen Körper und teilweise die Seele, unser Innenleben. Denn es ist ja der Mensch der mit seinen Tätigkeiten den Gegensatz zur Natur schafft, also können wir nicht vollständig Natur sein. Ich glaube, dass der Wunsch nach einer harmonischen Idealwelt auftaucht, weil wir uns eben schon sehr stark von der Natur, also von dem, was auch ohne menschliche Tätigkeiten und Handlungen existiert und funktioniert, entfernt haben. Ich schreibe diesen Text am Computer in meiner Wohnung in Bern, also in einer weitgehend künstlichen, d. h. von Menschenhand erschaffenen Umwelt (auch wenn sie historisch „gewachsen“ ist). An Natur werde ich erinnert, wenn ich draussen zwei, drei Bäume sehe, den Himmel und wenn ich z. B. niesen muss. Da wir alles stark manipulieren (auch unseren Körper) und selber auch manipuliert werden, sehnen wir uns nach dem Gegenteil, dem was frei von jeder menschlichen Manipulation ist.
Häufig haben wir die Illusion etwas sei Natur, dabei hat der Mensch schon Einfluss genommen, das heisst es handelt sich eigentlich um Kultur. Z. B. ein normaler Apfelbaum ist ja in den meisten Fällen von jemandem gepflanzt worden, dann muss er aufgepfropft werden, damit er die uns bekannten grossen Äpfel hervorbringt. Ausserdem wird er noch regelmässig geschnitten und womöglich noch anderweitig gepflegt. Trotzdem ist der Anteil, den die Natur am Apfelbaum hat, immer noch recht gross. Deshalb denken wir auch an Natur, wenn wir einen Apfelbaum sehen. So verhält es sich auch mit Gärten, Wälder, der Landwirtschaft und ganzen Landschaften. Ist der Anteil an menschlichen Eingriffen sehr hoch, denken wir mit der Zeit nicht mehr an Natur, z. B. bei einem Garten mit englischem Rasen und zurechtgestutzter Zierhecke oder bei Monokulturen (das hat auch mit der abnehmenden Vielfalt und der zunehmenden Eintönigkeit zu tun, was wiederum mit unserer industriellen Produktionsweise zusammenhängt).
Beim Wort Natur denken die meisten Leute bei uns nicht mehr an die rohen Naturgewalten, die beherrscht und kontrolliert werden müssen. Wer in den Bergen wohnt vielleicht noch eher. Aber die Natur wird vielmehr als etwas Zerbrechliches wahrgenommen. Auch bei der Klimaveränderung befürchten wir mehr, dass alles aus dem Gleichgewicht gerät und selbst wenn eine Naturkatastrophe geschieht, denken wir sogleich auch an die Fehler der Menschen (man hätte dort eben nicht siedeln sollen, die Häuser sind zu schlecht gebaut, oder das ist alles wegen der Luftverschmutzung u. a.).
Obwohl wir uns nach der Natur sehnen, hat die Natur in unserem Wirtschaftssystem leider kaum einen Wert. Je mehr sie bedroht ist, umso mehr Wert wird sie allerdings bekommen, z. B. als Erholungsraum. Aber auch hier geht es um unsere menschlichen Bedürfnisse („ich möchte in den Wald, um mich zu erholen“) und nicht um die Bedürfnisse der Tiere und Pflanzen. Diese haben ganz eigene Bedürfnisse und Respektieren der Natur würde heissen, diese Bedürfnisse, unabhängig von unseren menschlichen Zielen zu respektieren und zu erhalten, die Natur als Selbstzweck zu anerkennen. Das würde bedeuten, dass die Menschen ihre Bedürfnisse begrenzen müssten und sie nicht ins Grenzenlose steigern könnten. Käme es nicht auf die rechte Mischung an? Die Menschen, aber auch die Tiere und Pflanzen müssten zu ihren Rechten kommen und wenn die Menschen den Tieren und Pflanzen dienen und diese wiederum den Menschen könnte sich ein neues Zusammenspiel ergeben, eine Kultur. Davon sind wir aber noch sehr weit entfernt, weil wir noch nahezu vollständig im Banne der Industrialisierung stehen, das heisst immer mehr, immer schneller und immer billiger produzieren und konsumieren müssen – als Selbstzweck. Deshalb ist die Natur für uns primär Rohstoff und Konsumgut und wird auch so behandelt.