„Nur was ich sehe, gibt es wirklich“

Einer Diskussion unter Kindern ist zu entnehmen, dass eines der Mädchen der Ansicht ist, Engel könne es nicht geben, da man sie nicht sehe. Und es gäbe nur Dinge, die man sehen könne. Ein zweites Mädchen hält zwar die Engel für existent, behauptet aber, es könne sie sehen.

Spontan neigt man heutzutage dazu, jemandem Recht zu geben, der sagt, er glaube nur an das, was er selber mit eigenen Augen sehen könne. Nur das halte er für wirklich und existierend. Wenn wir aber nur kurz überlegen, merken wir, dass es Unsinn ist zu behaupten, nur die sichtbaren Dinge seien wirklich. Zum Beispiel können wir ja Töne nicht sehen. Wir sehen allenfalls ein Klavier an dem ein Mensch sitzt und spielt, also die Klaviertasten betätigt. Oder wir sehen ein Radio, allenfalls noch einen Lautsprecher. Aufgrund unserer eingehenden Erfahrungen mit dem Erzeugen von Tönen gehen wir davon aus, dass die Töne dort entstehen. Es gibt also die Töne, obschon wir sie nicht sehen können, wir sehen höchsten ein Gerät, durch das sie erzeugt werden können. Demnach müsste man die Aussage erweitern und sagen, nur was sicht- und hörbar ist, existiert wirklich. Analoges gilt für alle unsere Sinneswahrnehmungen.

Wenn wir weiter nachdenken, bemerken wir, dass auch die Aussagen und gesprochenen Sätze und Wörter nicht sichtbar sind. Auch die Bedeutung der Wörter ist, ausser eventuell bei Namen, nicht sichtbar. Doch auch beim Namen Peter sind das Wort Peter, die Bedeutung Peter und die Person Peter drei verschiedene Dinge. Plötzlich stutzen wir und werden gewahr, dass auch alle unsere zum Thema gemachten und zumeist unausgesprochenen Gedanken nicht sichtbar sind. Trotzdem würden wir nicht auf die Idee kommen zu behaupten, Wörter und Gedanken gebe es nicht. Dasselbe mit dem Gefühl des Stutzens und allen weiteren Gefühlen: ebenfalls alle nicht sichtbar; allenfalls der oder ein körperlicher Ausdruck davon, aber nicht das subjektiv empfundene Gefühl selbst. Trotzdem sind diese Gefühle zumindest für uns selbst zweifelsfrei existent, wenn auch ihre Dauer sehr unterschiedlich ist. Ebenso wie Erinnerungen und alle übrigen subjektiven inneren Wahrnehmungen und Erfahrungen, die wir machen.

Wenden wir uns nochmals dem Sehen und Hören zu. Wenn wir die Vorgänge genau analysieren, kommen wir auch bei diesen beiden Wahrnehmungen zum Schluss, dass das Bild und der gehörte Ton, zu einem wesentlichen Teil auch in unserem Gehirn oder jedenfalls Körperinnern entsteht, obgleich er auch durch die Art der Licht- oder Tonerzeugung, ihrer Übertragung und die Art und den Zustand unserer Wahrnehmungs- und Weiterleitungsorgane (Nervenleitungen) bestimmt ist.  Schlussendlich tritt das Bild oder der Ton in unserem Vorstellen uns selber (unserem Ich) gegenüber, das die eingehenden Signale interpretiert und die Vorstellungen erzeugt. Auch Bild und Ton sind somit nicht einfach in sicht- oder hörbaren Aussenwelt vorhanden, beziehen sich aber auf diese.
Ohne jede Esoterik oder Religion gibt es also neben dem Reich des Sichtbaren ein riesiges Reich von Unsichtbaren, aber existierenden Dingen.

Vielleicht müsste man die anfangs erwähnte Mädchen eher so verstehen, dass sie meinten, nur Dinge, wovon sie eine Sinneswahrnehmung haben könnten, existierten wirklich. Wiederum wären wir dann im subjektiven Bereich unserer eigenen Wahrnehmungen und müssten jetzt unterscheiden, welches sind Wahrnehmungen, die sich auf die Aussenwelt beziehen, die klassischen Sinneswahrnehmungen und für die wir ein klar identifizierbares körperliches Organ haben (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken, Gleichgewicht, Druck usw.) und welches sind Wahrnehmungen, die sich nur auf unseren eigenen Körper beziehen ( Spannungs- oder Lockerheitsgefühle der Muskulatur, Lust- und Unlust, Schmerzen, Übelkeit, Müdigkeit, Wachsein usw.). Beide Wahrnehmungsarten wären grundsätzlich Wahrnehmungen von wirklich Existierendem. Vorbehalten bleiben immer die Fälle, wo man sich täuscht. Aber das sind Ausnahmen und oft kann oder könnte die Täuschung entlarvt werden).

Es gibt bei der Wahrnehmung zwar Bereiche, wo die Unterscheidung recht klar ist, leider gibt es aber auch Grenzbereiche, wo alles zu verschwimmen beginnt. Zum Beispiel wenn wir übermüdet sind. Zusätzlich kommt noch ein dritter Bereich der Einbildung und Fantasie, Ängste, Erinnerungen, Träume, Wünsche usw. hinzu. Hier beginnen jetzt endgültig die Schwierigkeiten der Mädchen und unsere. In diesem dritten Bereich kann einfach nicht mehr mit Sicherheit entschieden werden, was wirklich und was nur eingebildet ist. Die Entscheidung, was existiert und was nicht, ist aber nicht primär auf die Sichtbarkeit zurückzuführen, da man sich auch beim Sehen täuschen, sich Dinge einbilden oder bestimmte Dinge einfach nicht sehen kann. In unserer Kultur ist das Sehen, vielleicht nach dem Berühren (das uns in unserer Gesellschaft leider oft verwehrt wird) eines unserer wichtigsten Mittel, um uns davon zu überzeugen, dass etwas Vorgestelltes oder Wahrgenommenes auch tatsächlich ausserhalb von uns vorkommt.
Im dritten Bereich unserer Wahrnehmung bleibt aber durchaus Spielraum für weiteres Existierendes. Einerseits dadurch, dass wir uns nicht darauf Versteifen, dass es sichtbar sein müsse, was ja, wie wir oben gesehen haben kein zwingendes Indiz für Existenz ist. Hier könnten wir die Erinnerungen anführen, die sich auf existierendes beziehen, aber nicht unmittelbar und die auch viel zweifelhafter sind als die Sinneswahrnehmungen. Andererseits  vielleicht dadurch, das wir in diesem Bereich weiter zu differenzieren lernen und eventuell auf eine vierte Wahrnehmungsart stossen, wo, unabhängig von durch Wünsche und Ängste erzeugten Einbildungen, Existierendes erfasst wird. Diese Wahrnehmungsart könnten wir zum Beispiel Intuition nennen.

In einem weiteren Beitrag könnten wir untersuchen, inwieweit wir bei abstrakten Dingen überhaupt von Existenz sprechen dürfen (Realia oder Nominalia).  Ebenfalls müssten wir genauer die Aussagen betrachten, mit welchen wir die obigen Sachverhalte beschrieben haben: Da wir nur von existent oder nicht gesprochen haben, müssten wir klären, was das im Bezug auf Seiendes und Wahres genau meint.

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