Das scheint auf den ersten Blick eine rhethorische Frage zu sein. Ja, natürlich soll man sich politisch betätigen. Allerdings wird man im praktischen Alltag allzuhäufig zurückgepfiffen. Zumeist mit dem Argument, dass man sich in bestimmten Fragen ja nicht genauer auskenne. Dem kann man entgegenhalten, dass man sich über die betreffenden Fragen ja bei diversen Fachleuten informieren kann. Trotzdem wird man das Thema nie so genau kennen wie die betreffenden Fachleute. Das heisst, man muss ausgewählten Fachleuten – oder als Vermittlungspersonen auch Journalisten – gegenüber Vertrauen entgegenbringen, dass sie den Sachverhalt richtig darstellen. Poltitische Fragen sind ja per Definition Fragen, die sich auf das gemeinschaftliche Leben beziehen. Das heisst, es sind Angelegenheiten, die mich direkt und indirekt betreffen, aber natürlich betreffen sie auch andere. Wenn ich also zugeben würde, dass ich zuwenig weiss, um bei politischen Fragen mitzubestimmen, würde ich meinen Anspruch auf Mitbestimmung und ein gewisses Mass an Selbstbestimmung aufgeben. Diesen Anspruch wird aber niemand aufgeben, da er zum Leben gehört. Ich werde also mitreden im Sinne meiner persönlichen Lebensinteressen, auch wenn ich unvollständig informiert bin. Und nur einen Teil der Fragen werde ich als für mich unbeantwortbar – mangels Erfahrung und Wissen – den Spezialisten überlassen. In der Demokratie wird uns ja dieser Anspruch in allen Fragen, die zur Abstimmung gelangen immer noch zugestanden (es gibt Leute, die diesbezüglich aber die Demokratie immer mehr in Frage stellen). Politische Fragen müssen daher so und in einer Sprache aufgeworfen werden, die von allen Beteiligten verstanden werden kann. Ausserdem gehört es (in einer Demokratie) zum Konzept der Person, dass sie entsprechend gebildet und fähig ist in politischen Fragen aufgrund der eigenen Interessenslage und wenn möglich auch unter Berücksichtigung der gemeinschaftlichen Interessen zu urteilen. Das kann natürlich nicht immer gelingen. Jeder und jede kann sich irren, auch die Spezialisten, wenn auch aus anderen Gründen als ein Laie. Aus der Konzeption der Person folgt auch, dass politische Fragen grundsätzlich allgemein verständlich vorgebracht werden können, dass sie von den Betroffenen und Beteiligten (wobei Kindern und Jugendlichen leider nur eine sehr beschränkte Beteiligung zugestanden wird) verstanden werden können.
Da sich politische Fragen auf das allgemeine Zusammenleben beziehen, müsste das bisher Gesagte auf zahlreiche Lebensbereiche zutreffen. Es zeigt sich aber, dass diese Art Fragen zu behandeln nur im Rahmen der politisch-institutionalisierten Verfahren zugelassen wird. Es sind also zahlreiche Lebensbereiche des Einzelnen ausgeschlossen, unter anderen die Familie, der Alltag allgemein und die Arbeitswelt.
Betrachten wir zunächst die engere Familie. Da das Lebensinteresse von uns allen die Mit- und möglichst grosse Selbstbestimmung einfordert und es sich um gemeinschaftliches Zusammenleben handelt, müsste auch hier politisches Mitreden erlaubt sein. Kindern und Jugendlichen wird es vermutlich und unter anderem aufgrund des Konzeptes der Person nicht zugestanden, da sie ja noch lernen müssen und nicht mündig seien. Da diese Gruppen aber ihr Lebensumfeld in und ausserhalb der Familie haben, sollten sie in diesen Lebensbereichen mitreden können. Sie wissen ja was ihre Interessen sind und sie haben Erfahrungen in diesen Lebensbereichen (die zugegebenermassen anfangs beschränkt sind, aber rasch immer mehr zunehmen). Es ist aber gerechtfertigt, dass gewisse Fragen von den Eltern entschieden werden, die ja im Normalfall auch die grössere Verantwortung tragen und da es Fragen sind, die von Kindern und Jugendlichen nicht hinreichend beurteilt werden können, da sie über ihren Erfahrungsbereich weit hinausgreifen. Dennoch wird aus Machtgründen, bzw. Schwäche die Mitsprachemöglichkeit von Kindern und Jugendlichen weit über das nötige Mass hinaus beschränkt. Es geht dann darum, dass Kreise der Gesellschaft die Jugendlichen überhaupt nicht mitsprechen lassen wollen, da sie sich einfach gesagt vor Neuem fürchten, meist unter dem Vorwand der „Unvernunft“ der Jugendlichen. Dabei ginge es hier darum festzustellen, dass Jugendliche heute chon viel früher gut informiert sind und ihre Interessen wahrnehmen könnten. Sie werden allzulange und allzuoft sinnlos als unmündig erklärt und zur Untätigkeit verurteilt, was ihre Selbstbestimmung betrifft. Auch den Kindern gegenüber gewähren die Eltern meist viel zuwenig Mitsprache-Möglichkeiten, was die Kinder in unnötiger Weise entmündigt.
Bezüglich der weiblichen Familienmitglieder ist es inzwischen ja allgemeiner Konsens, dass sie wegen der Machtanmassung des Pariarchats lange als unmündig behandelt worden sind und daher – zumindest offiziell und formell – von jeglicher Mitbestimmung ausgeschlossen wurden.
Als zweiten Fall möchte ich die Arbeitswelt untersuchen. Wiederum folgt aus der weiten Definition von politisch als alle Fragen, die die Polis, also das Zusammenleben in einer Gemeinschaft (Stadt, Dorf, Familie etc…) betreffen, dass auch in diesem Lebensbereich Mitbestimmung möglich sein sollte. Wie wir wissen ist das kaum der Fall. Es lässt sich feststellen, dass in der Arbeitswelt in vielen die Interessen der MitarbeiterInnen betreffende Fragen keine Mitbestimmung möglich ist und demokratische Ansätze nicht vorhanden sind. Zur Erklärung wird vorgebracht, dass in der Arbeitswelt besondere Bedingungen herrschen. Es ist eine Zweckgemeinschaft, da die Gemeinschaft zur Erfüllung bestimmter wirtschaftlicher Zwecke und Resultate eingegangen wird. Diese Art Gemeinschaft wird durch bestimmte rechtliche Rahmenbedingungen und Vereinbarungen, darunter z. B. auch die Arbeitsverträge, definiert. Diese Rahmenbedingungen gibt zum Teil die Politik im engeren Wortsinn vor. Das heisst nur durch die demokratischen Verfahren der Gesamtgesellschaft seien diese Rahmenbedingungen zu definieren. Ein Teil der Bedingungen wird aber auch individuell zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgehandelt, wobei letzterer zumeist am viel kürzeren Hebel sitzt. Ein dritter Teil wird durch die gesellschaftlichen Interessenvereinigungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber vereinbart. Ein Teil der Rahmenbedingungen wird also demokratisch ausgehandelt der anderen Teile sind reine Interessens- und Machtkämpfe (das schliesst nicht aus, dass das demokratische Verfahren ebenfalls durch Machtungleichgwichte stark verzerrt wird und dass Interessen zwischen Akteuren auch mal fair und partizipativ ausgehandelt werden können). Was innerhalb dieses verhandelbaren Rahmens passiert ist dann aber nicht mehr verhandelbar. Dort gelten dann die Spielregeln, die aufgrund der Tradition unserer Gesellschaft zur Anwendung kommen. Im Hintergrund stehen immer auch Machtfragen, die ich hier aber tendenziell ausser Acht lasse, da ich auf Vernunft begründete Argumente für die Mitbestimmung auch in der Arbeitswelt und besonders in Betrieben suche. Nur in seltenen Fällen gibt es also echte Mitbestimmungsmöglichkeiten aller Beteiligten. Die Arbeitswelt betrifft ja unser Leben in hohem Masse und viel Zeit verbringen wir an der Arbeit. Aufgrund unserer Überlegungen zur Mitbestimmung und der Definition von politisch sollte unabhängig von den Rahmenbedingungen möglichst viel Mitbestimmung möglich sein. Die im Titel gestellte Frage erweist sich als nicht mehr sehr rhethorisch, wenn wir den Begriff „politisch“ weit fassen. Die mangelnde Mitbestimmung in der Arbeitswelt wird ausserdem begründet – soweit sie überhaupt begründet wird – mit den unterschiedlichen Rollen oder Funktionen der verschiedenen Akteure und besonders auch dem unterschiedlichen Fachwissen und der unterschiedlichen Erfahrung, die auch die verschiedenen Rollen begründen (würden). Aus diesem Argument heraus wir zumeist und in der Schweiz besonders gleich jegliche Mitbestimmung abgelehnt (mit dem etwas abgedroschenen Wort ausgedrückt, das Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet). Vergessen wird dabei Zweierlei: Erstens gibt es immer auch Fragen, die alle ArbeitnehmerInnen eines Betriebes betreffen, z. B. Fragen, die mit der Ausstattung ihres Arbeitsplatzes zu tun haben, den Aufenthaltsräumen usw. Ausserdem gibt es die Möglichkeit, dass die Spezialisten komplexe Fragen allgemeinverständlich erklären. Besonders in der Ökonomie zeigt sich, dass zahlreiche Fragen in allgemeinverständlicher Sprache relativ einfach erläutert werden können. Meist wird mit dem vermeintlichen Spezialwissen ein Kult betrieben, indem z. B. englische Fachbegriffe benutzt werden usw. Dabei geht es vielfach um die Aufrechterhaltung der eigenen Rolle als Fachmann oder Fachfrau und als Vorgesetzte/r. Eine Erläuterung der Sachverhalte und allgemein mehr Mitbestimmung wird zumeist auch mit dem Argument verhindert, das sei nicht effizient, da es zuviel Zeit in Anspruch nehme und Entscheidungen verlangsame oder unnötig verkompliziere. Bezüglich dem Einwand der Effizienz müsste wohl eine Güterabwägung zwischen Effizienz und der Qualität des Zusammenlebens vorgenommen werden. Ohne das weiter zu diskutieren erscheint es mir aber offensichtlich, dass mit dem Schlagwort Effizienz (das natürlich auch mit der ökonomische Marktlogik begründet wird) nicht jegliche Fragen des Zusammenlebens beantwortet werden können, auch nicht in einer Zweckgemeinschaft, die Resultate produzieren muss oder will.
Soweit vorerst mein Versuch die Frage des Mitredens von der Politik im engeren Sinne auf das politische Zusammenleben im weiteren Sinne auszudehnen. Ich bin dabei von den folgenden Grundannahmen und Definitionen ausgegangen:
- Politisch heisst das allgemeine Zusammenleben in einer bestimmten Gemeinschaft betreffend. Und betrifft eben nicht nur den bürgerlichen, öffentlichen Raum in einer Stadt.
- Das Lebensinteresse von Lebewesen und insbesondere von vernünftigen Lebewesen begründet einen Anspruch auf möglichst weitgehende (den Umständen entsprechend mögliche) Selbstbestimmung. D. h. unter Berücksichtigung der Anforderungen des Zusammenlebens also Mitbestimmung.
Genauer geklärt werden müsste wohl noch die Rolle der Person. Wer mitbestimmt übernimmt auch Verantwortung und dazu muss der Akteur fähig sein, das heisst er muss eine Person sein (wer allerdings andere bestimmen lässt, obschon er selbst mündig wäre, übernimmt ebenfalls Verantwortung).